ZUGRIFF - Sozialpädagogik und Zwangsmassnahmen im Kinder- und jugendpsychiatrischen Setting

 

Interviewerin: Frau Nydegger, Ihre Abschlussarbeit «Zugriff – Eine Diplomarbeit über Sozialpädagogik und Zwangsmaßnahmen im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Setting» befasst sich mit dem Thema Zwangsmaßnahmen im stationären Kontext. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die dieses sehr polarisierende Thema – strukturelle Gewalt – beleuchtet?

Nydegger: Als Mitarbeiterin in einem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Setting gehörten bewegungseinschränkende Zwangsmassnahmen wie Festhaltegriffe, Isolationen und Fixierungen für mich zum Berufsalltag, obwohl solche Situationen nicht alltäglich sind.

Die Rechtfertigung von struktureller Gewalt führt meiner Meinung nach zu großen Machtgefällen. Machtverhältnisse im psychiatrischen Setting bedeuten für die ausübende Person auch immer Verantwortung zu tragen, jedoch kann durch die Bürokratie, besonders durch standardisierte Abläufe und rechtliche Bestimmungen, die Verantwortung diffundiert und strukturelle Gewalt kaschiert werden.

Mit der Arbeit wollte ich die Wichtigkeit der Reflektion und Verantwortungsübernahme des eigenen Handelns beleuchten.

Interviewerin: Sie schreiben also aus persönlicher Erfahrung heraus?

Nydegger: Genau. Um mein eigenes Erleben und Handeln im Arbeitsalltag kritisch in Frage zu stellen und meine Position als Sozialpädagogin in diesem System besser einordnen zu können, widmete ich meine Diplomarbeit an der hsl – Höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Luzern, dem Thema Zwangsmassnahmen und deren Spannungsfelder.

Interviewerin: Ihre Arbeit besteht aus einem theoretischen Teil, der sich mit Zwangsmaßnahmen im stationär-psychiatrischen Kontext in Zusammenhang mit Ethik und Moral beschäftigt. Den zweiten Teil widmen Sie zwei Präventions- bzw. Deeskalationsmethoden. Was hat Sie dazu bewegt, diese Form zu wählen?

Nydegger: Mir war es wichtig in der Diplomarbeit Zwangsmaßnahmen vielschichtig zu beleuchten, da mit jedem Zugriff eine große Komplexität mitschwingt. Zum einen wird unsere Gesellschaft und Rechtsstaat miteinbezogen, zum anderen jedes Individuum mit ihrem eigenen ethischen Kompass.

Den Vergleich der zwei Präventions- und Deeskalationsmethoden wählte ich, um die Praxisnähe in der Diplomarbeit beizubehalten, mich mit den Abläufen auseinanderzusetzen und die eigene Handlungsfähigkeit zu stärken.

Interviewerin: Sie sprechen neben dem Spannungsfeld im Bereich «Ethik und Recht» auch von struktureller Gewalt, von Ohnmacht, Machgefällen und sozialer Ungleichheit. Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie dazu in Ihre Arbeit miteinfließen lassen?

Nydegger: Strukturelle Gewalt sollte im psychiatrischen Setting keine Normalität sein. Teilweise beobachtete ich Situationen in denen eine Ohnmacht aller Beteiligten vorhanden zu sein schien und als einzige Option zur bewegungseinschränkenden Zwangsmassnahme gegriffen wurde, was ich kritisch betrachte und mich mit einer Unzufriedenheit im Arbeitsalltag hinterließ.

Interviewerin: In Ihrer Rolle als erfahrene Sozialpädagogin – welche Möglichkeiten sehen Sie, Zwangsmaßnahmen zu umgehen?

Nydegger: Ein Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren kann die Anwendung von Zwangsmassnahmen verringern. Solche Faktoren sind der Personalschlüssel, vorhandene und vorgelebte Deeskalationsmethoden, sowie die Selbstsicherheit diese anzuwenden, institutionelle Haltungen, Bereitschaft des Personals Verantwortung zu tragen, Infrastrukturen, nur um einige davon zu nennen.

Interviewerin: Widmen wir uns jetzt dem Praktischen Teil. Was sind Ihrer Meinung nach die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ProDeMa und der NeuroDeeskalation®?

Nydegger: Beide scheinen den Schutz der Patient:innen und des Personals im Fokus zu haben. ProDeMa wirkt im ersten Moment strukturierter und leichter anwendbar, scheint aber wesentliche wissenschaftliche Aspekte, wie die Qualität der Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit in Krisensituationen, nicht zu berücksichtigen. Der eskalierenden Person wird keine Begleitung in der Gefühlsregulation angeboten, wodurch ein großes Lernfeld verloren geht. Die NeuroDeeskalation® spricht in diesem Zusammenhang von korrigierenden Bindungserfahrungen.

Interviewerin: Was kann man darunter verstehen?

Bei der NeuroDeeskalation® liegt der Fokus im würdevollen Begleiten durch Kontakt- und Beziehungsangebote. Als Basis greift sie u.a. auf Theorien rund um neurobiologische Aspekte zurück. Damit meine ich das Wissen rund um angeborene Verhaltensmuster von Säugetieren wie kämpfen, fliehen oder erstarren, die uns helfen, zu überleben und eben auch in eskalierenden Situationen ganz automatisch abgerufen werden.

Interviewerin: Das bedeutet, auch in einer Eskalation geht es quasi ums Überleben?

Nydegger: Genau, je nach Intensität zeigen sich auch schon in kleineren Eskalationssituationen Ansätze dieser angeborenen Verhaltensmuster. Wir streiten, wir gehen in den Rückzug oder wirken abwesend in Sozialen Situationen. All dies passiert aus gutem Grund, aus Schutz. Unser Gefahrensystem ist also aktiviert.

Interviewerin: Was sind Ihrer Erfahrung nach zentrale Elemente der NeuroDeeskalation®, um das Gefahrensystem wieder zu beruhigen?

Nydegger: Für mich sind die zentralen Elemente die Guidance, Co-Regulation und innere Haltung. Die Guidance soll einen Ausweg aus der Not darstellen und bei der Reorientierung unterstützen.

Interviewerin: Das bedeutet in der Praxis?

Ich bin in ständigem Kontakt mit der eskalierenden Person. Ich mache mich zu seiner Orientierungsperson. Ich bin also der Guide und zeige den Weg aus der vermeintlich ausweglosen Situation.

Interviewerin: Und dies hängt vermutlich eng mit der Co-Regulation zusammen, oder?

Nydegger: Ja! Genau genommen sogar Eigenregulation first! Ich reguliere mich zuerst, um mich im nächsten Schritt der eskalierenden Person, im Sinne der Co-Regulation, zuzuwenden. Dies fordert ein intensives Beschäftigen mit sich selbst. Es geht um Erlernen von Selbstregulationsstrategien.

Und Co-Regulation ist dann quasi der Schlüssel. Es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl und das Gegenüber fühlt sich weniger auf sich allein gestellt. Dies bewirkt bereits eine erste neurobiologische Reaktion zur Beruhigung des Gefahrensystems im Gehirn, da das Bindungshormon Oxytozin ausgeschüttet wird. Zusätzlich ist der Lerneffekt größer, da neue Regulationsstrategien gezeigt werden und bereits Bekannte wiederholt werden können.

Interviewerin: Und was meinen Sie mit innerer Haltung?

Nydegger: Wesentlich dabei empfinde ich die eigene innere Haltung und Authentizität. Damit meine ich, dass ich nur dann als Orientierungsperson wahrgenommen werde, wenn meine Ausstrahlung, Mimik und Körpersprache dies auch authentisch widerspiegeln.

Interviewerin: Welche praktischen Erfahrungen haben Sie mit diesen Ansätzen in Ihrem beruflichen Alltag gemacht?

Nydegger: Dass dies nicht von heute auf morgen passiert. Es braucht Zeit und Mut, sich mit sich selber zu beschäftigen, zu reflektieren, was die eigenen Themen sind und welche Regulationsstrategien für einen selber hilfreich sind.

Und wenn diese Haltung auf mehrere Personen im Team übergeht und die Methode authentisch angewendet wird, sind viele wertvolle, korrigierende Erfahrungen möglich – da spreche ich aus persönlicher Erfahrung.

Interviewerin: Würden Sie also die NeuroDeeskalation® als Methode und Schulungsansatz für Teams weiterempfehlen?

Nydegger: Auf jeden Fall. Ich bin überzeugt davon, dass die NeuroDeeskalation® eine gelungene Methode ist, um sie überall dort anzuwenden, wo Menschen eine wertschätzende Begleitung bevorzugen. Auch Systeme, welche nicht ständigen Eskalationen ausgesetzt sind, können von dem Ansatz profitieren und die Präventionsarbeit übernehmen.

Ich meine, diese Haltung ist wertvoll in allen zwischenmenschlichen Situationen.

Interviewerin: An wen richtet sich Ihre Arbeit und was ist Ihr persönliches Fazit?

Nydegger: Meine Arbeit richtet sich an alle Fachpersonen, welche das heutige psychiatrische System weiterbringen möchten, ihr eigenes Handeln reflektieren und Verantwortung übernehmen, anstatt wegzusehen.

Mein persönliches Fazit ist die zentrale Bedeutung der Selbstreflexion und inneren Haltung. Diese Elemente haben wesentlichen Einfluss auf die Qualität von Begegnungen. Sie können die Zusammenarbeit im Team auf Augenhöhe stärken und würdevolles, patientengerechtes Begleiten ermöglichen.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch, Frau Nydegger.

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Patricia Nydegger verfasste ihre Diplomarbeit im Jahr 2024  im Rahmen ihrer Ausbildung zur Dipl. Sozialpädagogin an der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Luzern.